„Die Sieben Todsünden des Schachspielers“ von Jonathan Rowson ist eine der besten Publikationen der Literatur auf dem Gebiet der 64 Felder. Sie gehört in jede Bibliothek. „The biggest sin in chess“ (3) – Die achte Todsünde jedoch, ist die schlimmste und verdient ein eigenes Kapitel. Bis zum Juli 2019 war Igor Rausis ein ganz normaler Schachspieler und durchschnittlich bekannt. Bis zum Sommer jenen Jahres war er ein ehrwürdiger, sauberer Schachgroßmeister, ein medizinisch gebildeter Neurologe und Nationaltrainer der lettischen Schachjugend. Nach seiner Turnierteilnahme in Straßburg war von einem Tag auf den anderen alles anders. Fast alle Schachspieler kannten seinen Namen. Nach dem Sommer 2019 assoziierten ihn seine Schachkollegen mit einem schmutzigen Toilettenfoto, das ihn in gebückter Haltung beim Cheaten überführte. Was bewegte Rausis, ja was motiviert den immer inflationärer auftretenden Cheater, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen – ja zu ruinieren??! Egal, ob reales Holz- oder virtuelles Computerschach: Das Betrügen mit technischen Hilfsmitteln scheint auszuufern. Die Coronakrise spülte das Onlineschach tsunamigleich über die entleerten Gestade der verwaisten Clubabende. Mit den Schachportalen kamen die Avatare. Egal ob chess.com, lichess oder andere Plattformen – Die Aliasnamen, unter denen sich die Schachspieler – meist anonym – täglich in Turnieren tummeln, hielten Einzug. Und mit ihnen schwappten auch die Betrugswellen ins anfänglich azurblaue Wettkampfbecken. Allein die professionelle Plattform chess.com berichtet von täglich 500 Fällen. (1) Im Interview mit Igor Rausis wird die Frage nach dem Warum windmühlenartig gestellt. Ebenso hartnäckig wie erfolglos. Eine wirklich verständliche Antwort bleibt er den Lesern schuldig. Seine Erklärungsversuche schwanken zwischen der Angst vor dem Verlieren, der Kompensation gesundheitsbedingter, nachlassender Spielstärke, bis hin zu Opferdarstellungen („This Czech player, he attacked me in the media.“) Ein weiterer interviewter Cheater gibt preis, dass er aus Panik vor dem Verlieren zu unerlaubten Mitteln gegriffen habe.(5) Sehr geehrter Leser, vermissen Sie etwas Grundlegendes?! Aber ja doch! Keiner der ehrenwerten Protagonisten erwähnt Eitelkeit, Geltungsdrang, Gefallsucht oder gar ein zu kleines Ego. Selbst im Moment der Beichte leugnet oder bemäntelt der Cheater diese menschlichen Grundmotive zwecks Selbstschutz und kompensiert sie durch Verständnis suchende Beteuerungen, Streufeuer und Nebelkerzen. Ist es das wirklich wert, sich durch Betrug mit Siegen und Wertung zu bereichern und seine Gegner unfair zu behandeln? Was steht auf der anderen Seite auf dem Spiel? Freundschaften, Ehrenhaftigkeit, Fairness und Sportsgeist. Und noch eines: Kann man sich über ge-cheatete Siege wirklich freuen?
Klaudia Kulon, Teilnehmerin des Schachfestivals Ustroń, schreibt als Betrogene: „Das erste was ich nach der Niederlage gegen Patrycja tat, war meine Mutter anzurufen und zu weinen, weil ich mir sicher war, dass es kein fairer Sportwettbewerb war.“ (4) Mithin stehen bei der Betrachtung von cheating in der Regel die Täter und selten die Opfer und deren Schaden im Vordergrund. Der Autor dieser Zeilen macht sich ebenfalls des gleichen Fehlers gemein und bekennt sich im Sinne der Anklage für schuldig. Aus diesem Grund empfiehlt er nachdrücklich, sich die facebook Kommentare von
Klaudia Kulon und Michalina Rudzinska zum „polnischen Fall“ durchzulesen. (4) Ein überführter Schachbetrüger beschreibt es selbst treffend so: „Früher oder später werden alle Betrüger einmal unaufmerksam. Wenn es jahrelang problemlos läuft, lässt die Anspannung nach, das Cheating wird sozusagen Routine, wenn man so will. Das führt fast zwangsläufig zur Nachlässigkeit, man macht Fehler. Und irgendwann ist es dann soweit, man wird erwischt.“ (5) Carol Dweck zeichnet in ihrem hervorragenden Buch „Selbstbild“ den feinen Unterschied zwischen einem statischen und einem dynamischen Selbstbild. (7) Das erstere zielt auf kurzfristigen Erfolg und Statusdenken, das letztere fokussiert das Arbeiten an sich selbst, den Prozess des kontinuierlichen sich Verbesserns. Schaut man auf bedeutende Schachgroß- oder gar Weltmeister, sind diese darauf aus, ihr Spiel zu verbessern und hart zu trainieren. Die Erfolge und Siege ergeben sich automatisch als Nebenprodukt. Talent allein, ohne Leistung, Anstrengung und Willen wird mithin dauerhaft keinen Erfolg haben. Igor Rausis ist nur ein prominentes Einzelbeispiel unter derzeit vielen bekannten und fortlaufend hinzukommenden. Igor Rausis heißt mittlerweile Isa Kasimi. Er wusste sich nur noch durch eine Namensänderung zu helfen. (Rausis: „Because the name Rausis is completely shamed. First of all, I feel sorry for my entire family. Even my daughter was ashamed of this story. This toilet photo, you cannot imagine, it was published everywhere, in all media, especially here in Latvia.“) (3) Beim Rapidturnier in Valka, wurde er trotz neuen Namens identifiziert. Sein ruinierter Ruf folgt ihm wie ein russischer Inkassoeintreiber. Isa Kasimi brach das Turnier ab. „Du kannst deinen Namen ändern, nicht aber dein Gesicht.“ (3) Man möchte hinzufügen: Auch nicht eine beschädigte Integrität.
Nach den von Rowson sieben dokumentierten Todsünden des Schachspielers „Denken, Blinzeln, Wollen, Materialismus, Egoismus, Perfektionismus und Fahrigkeit“ (8) wiegt die achte Todsünde gleichwohl am schwersten: (Selbst-) Betrug!
[Klaus Link] Quellen:
1. Gedanken zu einer Partie, Raij Tischbierek, Schach 10/2020
2. PCL 2020 UPDATE: Champions Armenia Eagles Disqualified | Hikaru Talks About Cheating In Online Chess, aus: https://www.youtube.com/watch?v=5Bbw7ZNUFt8&feature=y outu.be
3. Von Igors Rausis zu Isa Kasimi: Interview mit einem Schachbetrüger, Franz Jittenmeier, aus: https://www.chessinternational.com/?p=28283
4. 17-jährige Europameisterin wird 2 Jahre wegen Betrugs gesperrt, Colin McGourty , aus: https://chess24.com/de/lesen/news/17-j%C3%A4hrigeEuropameisterin-2Jahre-gesperrt
5. Interview mit einem Cheater, Marc Lang, aus: i. https://www.schachbundesliga.de/schachnews/inter view-mit-einem-cheater-12 ii. https://www.schachbundesliga.de/schachnews/inter view-mit-einem-cheater-22
6. Banned For Cheating, Igors Rausis Enters Tournament Under Different Name, Peter Doggers, aus: i. https://www.chess.com/news/view/igors-rausisname-isa-kasimi
7. Selbstbild, Carol Dweck 8. Die Sieben Todsünden des Schachspielers, Jonathan Rowson
Text: Klaus Link, SK Klingenberg